Moderne Familien funktio­nieren oft nur, weil die Grossmutter einspringt. Doch wehe, sie möchte ihr eigenes Leben führen.

40 Jahre, hatte sie ausgerechnet:

40 Jahre lang war sie für andere da gewesen. Für die Familie, die drei Kinder, den Mann. Dann wurde ihre Mutter krank; der Vater war überfordert, sie übernahm.

Nach dem Tod der Mutter brauchte der Vater Betreuung, er war hilflos, so allein, sie sprang ein. Mittlerweile waren die Kinder ausgeflogen, ihr Mann pensioniert. Sie machte weiterhin den Haushalt, kochte. Dann erkrankte ihr Mann, es folgten zwei Jahre Pflege auch für ihn.

Nach seiner Beerdigung sass sie daheim, allein in der Stille, und stellte verwundert fest, dass sie keine Verpflichtungen mehr hatte. Die ersten Monate waren hart, doch dann begann ihr diese neue Freiheit zu gefallen.

Zum ersten Mal seit 40 Jahren konnte sie tun und lassen, was sie wollte. Es war herrlich. Sie hatte das nie gekannt.

Brigitte G. will nicht falsch verstanden werden: Ihr Leben war gut. Schön. Erfüllt. Aber sie hat sich 40 Jahre lang zurückgenommen, alle anderen waren immer wichtiger.

Als ihr ältester Sohn Vater wurde und sie zur Grossmutter machte, erklärte sie ihm in aller Ruhe, dass sie als regelmässige Babysitterin nicht zur Verfügung stehe. Sie habe für ihren letzten Lebensabschnitt andere Pläne.

Ihr Sohn war pikiert. Die Schwiegertochter dachte, es liege an ihr. Deren Eltern fanden G. unmöglich. Die Nachbarn und die Freundinnen auch: Brigitte, du kannst doch die Jungen nicht im Stich lassen!

Tatsächlich funktionieren moderne Familien,

in denen beide Elternteile arbeiten – der Mann in der Regel Vollzeit, die Frau höchstens in einem 50-Prozent-Pensum –, oft nur dank dem regelmässigem Hüte­dienst der Grosseltern.

Genauer: dank der Grossmütter. Gemäss dem Generationen­bericht von 2008 springen die Omas jährlich während 80 Millionen Stunden ein, die Jungfamilien verlassen sich darauf, sie rechnen sogar fest damit: Ein Tag pro Woche Kita, ein Tag die eine Grossmutter, ein Tag die andere – das lässt sich organisieren und vor allem finanzieren.

Ihre Mütter sollen damit übernehmen, was Frauen von jeher machen: die Gratisarbeit, ohne die kein Haushalt zurechtkommt. Auf zehn Milliarden Franken jährlich werden die Kosten geschätzt, für die Frauen Angehörige, betagte Familienmitglieder oder eben Enkel unentgeltlich betreuen.

Würden all die Männer, die ihren Job gern machen, auf ihren Lohn verzichten? Wohl kaum.

Ruth Fries, Mitbegründerin der sogenannten Grossmütter-Revolution

Pasqualina Perrig-Chiello, Psychologie-Professorin an der Uni Bern, die sich mit dem Thema Alter befasst, sagt: „Es heisst immer, die Jungen müssten für die Alten bezahlen. Dass aber die Alten, und zwar allen voran die älteren Frauen, für Milliarden Franken jährlich Gratisarbeit verrichten, davon spricht niemand.“

Stattdessen heisst es: Sie macht es doch gern.

Ruth Fries, Mitbegründerin der sogenannten Grossmütter-Revolution – einem Projekt des Migros-Kulturprozents, lanciert von aufmüpfigen Omas –, seufzt, wenn sie diesen Satz hört. „Interessanterweise hört man ihn immer nur, wenn es um Frauenarbeit geht. Würden all die Männer, die ihren Job gern machen, auf ihren Lohn verzichten? Wohl kaum.“

„Es geht darum, dass unsere Arbeit weder wertgeschätzt noch vergütet wird“: Ruth Fries, Mitbegründerin der sogenannten Grossmütter-Revolution.

Es geht darum, dass unsere Arbeit weder wertgeschätzt noch vergütet wird

Ruth Fries, Mitbegründerin der sogenannten Grossmütter-Revolution.

Die Selbstverständlichkeit, mit der Grossmütter sich um ihre Enkel kümmern sollen, ärgert sie. Während ein Grossvater mit einem Enkel an der Hand Tränen der Rührung auslöst, wird automatisch davon ausgegangen, dass sich das für eine Grossmutter so gehört.

Heidi Witzig, Historikerin und ebenfalls Mitglied der Grossmütter-Revolution, hütet ihren Enkel jeweils mittwochnachmittags. Sie sagt: „Es macht mir wahnsinnig Spass. Aber mein Leben besteht doch aus mehr als bloss daraus, Oma zu sein.“

Auch Ruth Fries liebt ihre Enkel über alles. Aber sie hat mit ihrer Tochter von Anfang an eine Abmachung getroffen: „Du kannst jederzeit fragen – aber ich entscheide.“ So handhaben sie es bis heute.

Gut, hat das endlich mal eine gesagt. Ich hätte den Mut dazu nicht.

Reaktion auf den Auftritt von Ruth Fries in der Radio-Sendung „Forum“.

Als Ruth Fries just dies letztes Jahr in der Sendung „Forum“ auf SRF 1 sagte, sorgte ihre Aussage für Wirbel.

„Wie kannst du nur, Enkel sind doch das Schönste auf der Welt!“,

musste sie sich anhören, dabei war das doch gar nicht der Punkt. „Es geht darum, dass unsere Arbeit weder wertgeschätzt noch vergütet wird. Der Staat – indem er Kinderbetreuung als Privatsache betrachtet – und die Gesellschaft – die davon ausgeht, als ältere Frau habe man nichts anderes mehr vor im Leben, als Kinder zu hüten – verlassen sich auf uns, profitieren gern von uns, aber mehr als ein Schulterklopfen gibt es dafür nicht. Das finde ich nicht in Ordnung.“

Offenbar ist Ruth Fries nicht die Einzige, die das so sieht. Sie bekam nämlich neben aller Kritik auch unerwartet viel Zuspruch, von regelmässig eingespannten Grossmüttern, die ihr schrieben: „Gut, hat das endlich mal eine gesagt. Ich hätte den Mut dazu nicht.“

Die Frauen berichteten von Überforderung durch die häufige Betreuung der Enkel oder einfach davon, dass sie sich nach mehr Freiheit und Selbstbestimmung sehnen würden.

Brigitte G. hatte dasselbe gehört,

wenn auch nur hinter vorgehaltener Hand. Denn während sich das Bild der Mutter als duldendes, aufopferndes Wesen langsam wandelt, weil Frauen auch mit Kindern zunehmend einem Beruf nachgehen, bleibt das Klischee der Grossmutter bestehen.

Pasqualina Perrig-Chiello sagt es so: „Das Alter wird mit viel Negativem in Verbindung gebracht. Was sich positiv gehalten hat, ist das Bild der liebenden, gütigen Oma, die immer für alle da ist und Zeit hat.“

Der Soziologe und Generationenforscher François Höpflinger sieht es ähnlich. Selbst dann, wenn Grosseltern Enkel gemeinsam hüten würden, spiele die Grossmutter die zentrale Rolle, der Grossvater sei oft „einfach auch noch dabei“: „Die Grossmutter wird als asexuelles Wesen ohne Bedürfnisse wahrgenommen. Und sie dient als rosa verzuckertes Bild eines bürgerlichen Familienideals.“

Sich dagegen zu wehren, fällt schwer, der Erwartungsdruck ist hoch. Die revolutionäre Oma Heidi Witzig sagt: „Viele Frauen meiner Generation haben gelernt, dass sie dann geliebt werden, wenn sie brav und angepasst sind. Was sie nicht gelernt haben, ist, Nein zu sagen und ihre Bedürfnisse zu artikulieren, eigenständig über ihr Leben zu entscheiden.“

Viele Frauen meiner Generation haben nicht gelernt, eigenständig über ihr Leben zu entscheiden.

Heidi Witzig

Es brauche Mut, Nein zu sagen

– wenn das Mami immer lieb und klaglos funktioniert habe, sei mit Irrita­tion zu rechnen, wenn sich das­selbe Mami mit einem Mal vermeintlich querstelle.

Das ist das eine. Das andere, dass Frauen häufig noch berufs­tätig sind, wenn sie Grossmütter werden, das Durchschnittsalter liegt bei 56 Jahren.

Ruth Fries weiss, dass nicht wenige ihr Pensum reduzieren, um den Kinderhütedienst zu übernehmen: „Das heisst, sie verdienen während fast zehn Jahren weniger und haben deswegen später eine kleinere ­Rente. Das ist verheerend.“

Und die Frage stellt sich: Wieso reduzieren eigentlich nicht die Väter ihr Pensum?

Ich möchte die letzten zwanzig Jahre meines Lebens so verbringen, wie es die jungen Frauen heute für sich in Anspruch nehmen.

Brigitte G.

Brigitte G. musste sich ebenfalls verteidigen, rechtfertigen auch, und es verletzte sie. „Man fand es immer bewundernswert, wie ich mich um meine Eltern und dann um meinen Mann kümmerte. ­Bewundernswert, aber eben auch selbstverständlich. Das war es für mich auch. Dennoch habe ich ­viele Kompromisse gemacht. Ich möchte die letzten zwanzig Jahre meines Lebens so verbringen, wie es die jungen Frauen heute für sich in Anspruch nehmen. Und ich finde: Daran ist nichts verwerflich.“

Das sehen aber gerade die Töchter oft nicht so.

Deren Unverständnis geht mitunter so weit, dass sie beleidigt den Kontakt abbrechen oder mit dem Entzug der Enkel drohen, wenn die Grossmütter sich erlauben, nicht nach Stundenplan zur Verfügung zu stehen.

Manchmal erklären sie den bockigen Omas auch unumwunden, in diesem Fall könne diese dann nicht damit rechnen, dass man sich um sie kümmere, sollte sie je pflegebedürftig werden.

Anders gesagt: Gerade die jungen Männer und Frauen, die gleichberechtigter leben wollen als ihre Eltern, erwarten von ihren Müttern und Schwiegermüttern ganz selbstverständlich, dass diese sich ins alte Rollenbild fügen.

Seit Kinder zum Projekt geworden sind, hat sich die ­Situation zusätzlich verschärft. Grossmütter, die keine Lust haben, sich zu fixen Zeiten um den überbehüteten Nachwuchs zu kümmern, werden erst recht als Affront empfunden, als persönliche Zurückweisung.

Selbstbestimmung finden alle gut. Und wichtig. Bloss Grossmütter sollen sich doch bitte nicht erfrechen, diese für sich in Anspruch zu nehmen.

geschrieben von Bettina Weber

Quelle: dok.sonntagszeitung.ch

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