Faschingsscherz oder Fieberwahn?

Von einem massiven Virus niedergestreckt, glaubte ich bei dieser Meldung an einen neuen Fieberschub:

„Finnland schafft die Handschrift ab“.

Ja, klar – noch dazu Finnland, PISA-Gewinner und Vorbild für fast alle pädagogischen Neuerungen der letzten Jahrzehnte! Leider war der Bericht weder scherzhaft gemeint noch meinem aktuellen Gesundheitszustand entsprungen.

Aber alles nicht so heiß gegessen:

Schließlich gehe es ja nicht um eine generelle Abschaffung des Schreibens per Hand, sondern den Lehrkräften bleibt es ab Herbst 2016 lediglich freigestellt, auch weiterhin Schreibschrift zu vermitteln – nur eben zusätzlich zum Tastaturschreiben. Dadurch frei werdende Kapazitäten sollen zum Erlernen des Schreibens auf Tastaturen der PCs (und seiner Varianten) genützt werden, weil „Flüssiges Tippen auf der Tastatur ist eine wichtige Fähigkeit“(Zitat Helsinki Times). Wohlgemerkt, wir sprechen von der Grundschule, nicht von SchülerInnen ab dem 10. Lebensjahr!

Reichlich später Aufschrei

Was allerdings nicht nur an mir, sondern einem breiten Teil der Öffentlichkeit verborgen geblieben ist, ist die Tatsache, dass u.a. in Thüringen (2010), Hamburg, Berlin, und Nordrhein-Westfalen (jeweils 2011) bereits keine verpflichtende Schreibschrift gelehrt wird.

Ursula Bredel, Germanistikprofessorin in Hildesheim meint in diesem Zusammenhang: „Verbundene Schriften ermöglichen Schülern sprachliche Einheiten als verbundene Einheiten zu lernen.“
Na bitte, da liegen wir ja doch richtig mit unseren pädagogischen Ansichten und Bemühungen – ich denke da nur an all die motorischen Übungen (sowohl Fein-, als auch Grobmotorik), „Buchstabentage“ zum Erfassen der einzelnen Schriftzeichen mit allen Sinnen u.ä.

Dazu passend eine Passage aus einem Artikel aus „Die Welt“ vom 23.06.2014:

Begreifen, was ein A eigentlich ist

2012 legte Karin James, eine Psychologin an der Universität von Indiana, Kindern, die noch nicht schreiben und lesen gelernt hatten, Buchstaben vor und forderte sie auf, diese auf eine von drei Arten zu reproduzieren: das Bild auf Papier anhand einer gepunkteten Linie nachzeichnen, es auf einem weißen Blatt freihändig zeichnen oder auf einem Computer tippen.

Kinder, die die Vorlagen frei nachzeichneten, zeigten messbare Hirnaktivitäten in drei Bereichen, die auch bei Erwachsenen aktiv sind, wenn sie lesen und schreiben: der linken Spindelwindung, der unteren Stirnwindung und dem posterioren parietalen Cortex.

Bei Kindern, die nur Punkte verbanden oder die Buchstaben gar tippten, war kein vergleichbarer Effekt erkennbar. Karin James vermutet, dass gerade die „Unordnung“ der mit der Hand geschriebenen Buchstaben den Lerneffekt vergrößert. Jedes handschriftliche A sieht ein kleines bisschen anders aus.

Wenn Kinder in diesen Variationen immer dasselbe Buchstabensymbol erkennen, begreifen sie offenbar besser, was ein A eigentlich ist, als wenn man ihnen ein immer exakt gleiches Computer-A zeigt oder sie es tippen lässt.

Doch nicht nur Kindern hilft die Handschrift beim Lernen. Laut den Psychologen Pam A. Mueller von der Universität Princeton und Daniel M. Oppenheimer von der University of California lernen Studenten besser, wenn sie Notizen mit der Hand machen statt per Computer. Dieser Effekt war sowohl unter Laborbedingungen als auch in einem echten Vortragsraum nachweisbar.

Anders als früher vermutet, liegt das nicht an den ablenkenden Effekten des Computers. Sondern das Schreiben mit der Hand erlaubt es den Studenten offenbar, das Gehörte zu übertragen und neu zu strukturieren.

Eine kürzere Version desselben Themas In der „Kleine Zeitung“ vom 16.01.2015:

Das Schreiben mit der Hand sei laut Marquardt ein kognitiver und koordinativer Prozess, der weit über die reine Informationsverarbeitung hinausgehe. „Durch händisches Schreiben werden Lernen und Erinnerung verbessert“, das Gehirn werde trainiert, so der Schreibforscher. Wer die verbundene Handschrift aus dem Unterricht verbannen wolle, „der verzichtet auf die Entwicklung kognitiver und koordinativer Fähigkeiten bei den Schülern.“

Also sind sich ExpertInnen aller Couleurs einig, dass die Mühe beim Erlernen der Schreibschrift nicht unsinnig ist. Dass sich hingegen die Art des Schriftstils immer wieder ändert, ist dem Wechsel von der Kurrentschrift zur aktuellen Form unbestritten.

Was liegt also hinter dem Ganzen?

Es werden ja wohl kaum Einsparungen bei Bildungseinheiten sein, wenn die so neu geschaffenen freien Ressourcen sofort mit anderen Aufgaben gefüllt werden. (Ich stell mir das gerade lebhaft vor, wie statt Arbeitsblättern für Vorschulkinder Tastaturen zur Verfügung stehen, um die Treffsicherheit der Tasten zu erhöhen. Was kommt dann als nächstes? Die Unterweisung des raschen Eintippens von sms am Handy?) Oder wissen die bildungsverantwortlichen PolitikerInnen/ LobbyistInnen nicht, wie sie eine Erhöhung der Schulstunden anders begründen können, wodurch die „Freiwilligkeit“ gefordert ist? (Erinnert mich ein wenig an die Zeit meiner Ausbildung, als die Lehrkraft unser Klassenzimmer betrat, Zettel verteilte und wir laut Diktat schreiben „durften“: „Ich melde mich zu folgenden Freigegenständen an:…“ – Ohne diese Anmeldung wäre nämlich unser Bildungsweg gar nicht möglich gewesen!)

Sollte sich hingegen die oftmals erwähnte Vermutung bestätigen, dass PC-Konzerne ihren Umsatz dadurch steigern wollen, da ja sowohl an Bildungsstandorten als auch im heimischen Bereich zum Üben zusätzliche Geräte samt nötiger Software erforderlich wären, hätte ich noch einige innovative Vorschläge parat:

  • Freiwilligkeit beim Erlernen der Grundrechnungsarten zugunsten des Umgangs mit Taschenrechnern (auch über die Funktion des unverzichtbaren Handys).
  • Streichen wir die täglich verpflichtend Turnstunde und ersetzen sie durch „Vertrautwerden mit dem Fortbewegungsmittel Moped/Motorrad/Auto“, am besten direkt nach dem Kinderwagen. So würde die Handhabung der motorisierten Fortbewegung von Beginn an selbstverständlich, Schuhwerk müsste nur mehr zur Zierde produziert werden und die etwaige spätere Umstellung auf den Rollstuhl ging fließender vonstatten.

Aber noch hege ich Hoffnung:

Erstens werden in Österreich Innovationen besonders im Bildungsbereich ohnehin erst mit Jahren Verzögerung angedacht, geschweige denn umgesetzt, und zweitens kann sich nach meiner vollständigen Genesung ja alles noch als grobes Missverständnis herausstellen.

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