Seit vierzig Jahren gab es in Österreich keine gesetzliche Verkürzung der Arbeits­zeit­.

Zum Vergleich: In den 25 Jahren davor gab es gleich vier. Ist heute Arbeitszeitverkürzung nicht mehr notwendig?

Zunehmender Arbeitsdruck, unbezahlte Überstunden, flexibler Arbeitseinsatz, Abbau von Arbeit­nehmer­Innenrechten, Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse – das ist die Alltagsrealität der Menschen in Österreich. Vor dem Hintergrund steigender Erwerbslosenzahlen erfolgt eine massive Verschlechterung der Arbeitsbedingungen.

Steigende Produktivität führt dazu, dass in derselben Zeit immer mehr Produkte und Dienstleistungen erzeugt werden können – in Österreich stieg sie beispielsweise von 1994 bis 2012 um 24 Prozent, für Deutschland wurde berechnet, dass die selbe Menge an Gütern heute in der Hälfte der Zeit von 1960 produziert werden kann.

Solange wir eine Person haben, die Arbeit sucht und keine findet, sind die Arbeitszeiten zu lang,

soll 1887 Samuel Gompers, der damalige Präsident des Gewerkschaftsverbandes AFL in den USA, gesagt haben. Warum?

Der Kampf um bezahlte Arbeitsplätze – in Österreich zählen wir aktuell vierhunderttausend Erwerbs­arbeitslose – lässt den Mensch als Maß der Dinge immer mehr in den Hintergrund geraten. (Künftige) Erwerbstätige stehen unter dem Druck, sich den Arbeitsplätzen und den Bedürfnissen der Arbeitgeber anzupassen statt umgekehrt.

So kommt es, dass wir bei höchster Erwerbsarbeitslosigkeit zeitgleich

  • höchste Wochenarbeitszeiten (2013: 41,4 Stunden, Basis: Vollzeit),
  • hohe Überstunden (2013: 270 Millionen),
  • höchste Teilzeitquoten (2013: 26,5 Prozent, Frauen: 45,9 Prozent),
  • riesige Einkommensscheren (Privatwirtschaft: Frauen verdienen 23 Prozent weniger als ihre Kollegen),
  • und nur noch fünfzig Prozent aller Beschäftigten in kontinuierlichen, durchgehenden Vollzeit-Arbeits­plätzen haben.

Die „Reservearmee“ der Erwerbsarbeitslosen führt nicht nur zur Schwächung der Position der einzelnen ArbeitnehmerInnen, sondern zum Verlust der Verhandlungsmacht von Gewerkschaften.

Dabei könnte der technische Fortschritt, nach einer anderen Logik eingesetzt, zu einer Humanisierung der Arbeits- und Lebenswelten, zum Erhalt der Gesundheit, zu einer besseren Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit und damit zu mehr Gleichstellung, zur Ökologisierung und zur stärkeren Demokratisierung führen.

Wer kocht, putzt, lernt mit den Kindern?

Neben der ganz offensichtlich notwendigen FAIRteilung von bezahlter Arbeit zwischen den Erwerbs­arbeitslosen und den Zu-lange-Erwerbstätigen, ist eine allgemeine Erwerbsarbeitszeitverkürzung auch Voraussetzung für eine Neuverteilung von unbezahlter Arbeit, vor allem zwischen den Geschlechtern.

Nach der aktuellsten Zeitverwendungs-Erhebung (Mikrozensus 2009) wird in Österreich 49 Prozent der Zeit für Erwerbsarbeit und 51 Prozent für unbezahlte Arbeit aufgewendet – letztere zu zwei Drittel von Frauen. Während Frauen im Schnitt täglich vier Stunden unbezahlt im Haushalt (ohne Kinderbetreuung) arbeiten, sind es bei Männern zweieinhalb Stunden.

Selbst an den Wochenenden stellt sich das Verhältnis Freizeit zu Hausarbeit drastisch unterschiedlich dar: ­Während Frauen zu 55 Prozent Freizeit und 45 Prozent Hausarbeit „genießen“, sind es bei Männern 72 Prozent Freizeit und 28 Prozent Hausarbeit. Die Zubereitung der täglichen Mahlzeiten, Staubsaugen, Einkaufen, Geschirrspülen, … fallen offensichtlich ebenso wie selbstverständlich in den „Zuständigkeitsbereich“ der Frauen, wie Kinder anziehen, ihnen bei den Hausaufgaben helfen, daheim ­bleiben, wenn sie krank sind etc.

Und noch eines wird offensichtlich: Diese Tätigkeiten können auch nicht gut auf den Urlaub, einen Fenstertag oder ein Sabbatical aufgeschoben werden: Sie fallen so gut wie täglich an und so gut wie täglich ist dafür Zeit notwendig. Die vorrangige Vereinbarkeitsstrategie lautet derzeit Teilzeitarbeit – vorwiegend von Frauen. Mit allen damit verbundenen Nachteilen: Einkommen ohne Auskommen, eingeschränkte berufliche Weiterbildungs- und Entwicklungsmöglichkeiten, drohende Altersarmut etc.

Der meist als „Wunsch nach Teilzeit“ missinterpretierte Wunsch von Frauen nach kürzeren Erwerbsarbeitszeiten ist nichts anderes, als der Wunsch danach, neben der Erwerbsarbeit auch noch Zeit fürs restliche Leben zu haben. Dennoch spielt die Frage der ungleichen Verteilung der bezahlten und unbezahlten Arbeit zwischen Frauen und Männern in der Arbeitszeitpolitik nach wie vor keine wesentliche Rolle.

Die Ökonomin Ingrid Kurz-Scherf von der Universität Marburg hingegen hält im Interesse der Geschlechtergleichstellung eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung für unumgänglich:

Wer behauptet, ihm / ihr läge die Verwirk­lichung von Geschlechterdemokratie am Herzen und nicht über Möglichkeiten einer allgemeinen Arbeitszeitverkürzung zumindest ernsthaft nachdenkt, lügt oder irrt.

Zeit für Demokratie …

Wer von Erwerbsarbeit ausgeschlossen ist, für den/die reduzieren sich auch die Teilhabemöglichkeiten am gesamten Leben. Umgekehrt braucht Teilhabe auch Zeit außerhalb der Erwerbsarbeit. Eine allgemeine Arbeitszeitver­kürzung eröffnet auch Chancen zur Bildung, zu kultureller Beteiligung, zur Nachbarschaftspflege, zu Tätigkeiten in Vereinen, BürgerInneninitiativen, Selbsthilfegruppen, ­politischen Gruppierungen, Gewerkschaften, usw. Wenn Demokratie heißt, „sich in die eigenen Angelegenheiten ­einmischen“ (Max Frisch), dann will das aber auch gelernt und geübt werden – dazu braucht’s Zeit.

Darüber hinaus kann die Tätigkeit in Vereinen oder ­Initiativen Qualitäten enthalten, die viele Menschen in der Erwerbsarbeit nicht oder zu wenig finden: Selbstbestimmung über Inhalte, Produkte und ihre Gestaltung, Arbeit in einem gleichberechtigten Team, Einfluss auf die Auswahl der TeamkollegInnen, Eigenverantwortlichkeit in der Organisation der Arbeit, eigenständige Entscheidung über Arbeitstempo, Länge und Lage der Arbeitszeiten, etc. Das zu erleben und sich daran zu erproben, wird sich lang­fristig auch positiv auf die Humanisierung der Erwerbs­arbeit auswirken.

Der Philosoph Friedrich Nitzsche warnte davor, dass sich durch die „ungeheure Beschleunigung des Lebens Geist und Auge an ein halbes oder falsches Sehen und Urteilen gewöhnt“ und fürchtete, dass „aus Mangel an Ruhe unsere Zivilisation in eine neue Barbarei“ hinauslaufen würde. Deshalb forderte er, „das beschauliche Element in großem Maße zu ­verstärken“. Auch das Entwickeln von Gedanken, die Pflege von persönlichen Beziehungen, Lesen, Musik hören, Spielen etc. sind demnach notwendig und benötigen Zeit.

… Gesundheit …

Von 1994 bis 2011 haben sich in Österreich die Krankenstandstage vervierfacht – das, obwohl wir wissen, dass vielfach Menschen krank zur Arbeit gehen. Jüngere Erhebungen zeigen, dass vor allem die psychischen Belastungen (zum Beispiel Arbeitsdruck) am Arbeitsplatz steigen, unter anderem wegen der gestiegenen Arbeitsplatzunsicherheit.

Zwischen Dauer der Arbeitszeit und gesundheitlichen Beeinträchtigungen wird ein eindeutiger Zusammenhang festgestellt. So ist auch das mitunter gerne oder aus der Not heraus (Stichwort: Schulfreie Tage) betriebene „Zeitausgleich ansammeln“ oder die 4-Tage-Woche ohne entsprechende Ruhezeiten gesundheitsgefährdend: „Man kann Pausen nicht auf die nächste Woche verschieben“, meinen ArbeitsmedizinerInnen.

Um die Gefahr einer Arbeitsverdichtung zu verhindern (selber Arbeitsumfang in kürzerer Zeit) muss eine all­gemeine Arbeitszeitverkürzung ein erhebliches Ausmaß annehmen – nach unseren Vorstellungen auf maximal dreißig Wochenstunden.

… und Fußabdrücke

Während ziemlich einfach nachvollziehbar ist, dass ­kürzere Erwerbsarbeitszeiten auch einen geringeren Ressourcenverbrauch in Produktion und Dienstleistung mit sich bringen könnten, stellt sich sogleich die Frage, ob ­dieser nicht durch einen erhöhten Freizeitkonsum auf­gewogen wird. Nun, viele Unter­suchungen dazu gibt es noch nicht, aber erste Studien zeigen, dass bei kürzeren Erwerbsarbeitszeiten in der erwerbsfreien Zeit energie­intensive durch zeitintensivere, umweltschonendere ­Tätigkeiten ersetzt werden, etwa Benutzung des Fahrrades statt Autos.

Arbeitszeitverkürzung gehörte seit jeher zu den zentralen Anliegen der Gewerkschaftsbewegung und zwar durchwegs mit dem Argument der Verbesserung der Lebensqualität. Neben der kollektiven Arbeitszeitverkürzung braucht es auch individuelle Gestaltungsmöglichkeiten. Etwa das Recht, in einem gewissen Rahmen selbst über die Arbeitszeit entscheiden oder Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit beeinflussen zu können, längere Freizeitblöcke (zum Beispiel Zeitguthaben oder Sabbaticals) nach eigenen Bedürfnissen in Anspruch zu nehmen und die Arbeitszeit vorübergehend oder dauernd zu reduzieren.

Obwohl sich die objektiven Voraussetzungen zur Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit ohne Einkommensverlust mit wachsender Produktivität verbessern, weil bei Erhöhung des gesellschaftliche Reichtums die menschliche Arbeitskraft zunehmend überflüssig wird, wird nicht die Neuverteilung von Arbeit diskutiert, sondern eine Ausdehnung von Erwerbsarbeitszeiten.

Der Kampf um Arbeitszeiten ist ein klassischer Verteilungskampf: Über wie viel Zeit unseres kostbaren Lebens, unter welchen Bedingungen darf die Kapitalseite verfügen? Auf wie viele Menschen wird welche Arbeit aufgeteilt? Wie viele Stunden täglich, wöchentlich sind wir bereit, uns einem betrieblichen System von Weisung und Kontrolle zu unterwerfen? Welcher Preis wird der Kapitalseite dafür abgerungen, dass wir täglich „Mehrwert“ produzieren? Es geht in der Arbeitszeitfrage sozusagen ums „Eingemachte“ von gewerkschaftlichen und sozialen Kämpfen.

Dreißig Stunden sind machbar

In Schweden und Norwegen wird es bereits praktiziert: Wegen hoher Krankenstände haben einige Betriebe mit sehr belastender Arbeit auf den 6-Stunden-Tag beziehungsweise die 30-Stunden-Woche unter Lohnausgleich umgestellt. Mit ­großem Erfolg:

  • Die Zahl der Krankenstände ist zurückgegangen,
  • die Arbeitszufriedenheit und die Produktivität sind gestiegen,
  • die Erwerbsarbeitszeitverkürzung finanziert sich also großteils selbst.

In Göteborg läuft derzeit ein auf ein Jahr befristeter Probebetrieb, die Erwerbsarbeitszeit in kommunalen Altersheimen auf dreißig Wochenstunden zu reduzieren.

Wenn wir den Mut, zu träumen nicht mehr aufbringen und unser politisches Handeln gar nicht mehr an dem orientieren, was wir uns wünschen, dann werden wir ziemlich bald in einem ziemlichen Albtraum landen.
Ingrid Kurz-Scherf

Quelle: Die Alternative

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