Ende September beschloss der Europäische Gewerkschaftsbund sein Arbeitsprogramm.
Über 500 Delegierte aus 90 Mitgliedsorganisationen und 10 Branchen-Verbänden aus 39 europäischen Staaten beschlossen Ende September in Paris das Arbeitsprogramm des Europäischen Gewerkschaftsbunds. Gewählt wurde auch: Ein neuer Präsident und ein neues Generalsekretariat.
Gewicht
Dass der Europäische Gewerkschaftsbund – kurz EGB, Dachverband der überwiegenden Zahl europäischer Gewerkschaften – durchaus ein gewisses politisches Gewicht hat, davon zeugt allein der Aufmarsch politischer Prominenz am ersten Tag: Der EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker war da und hielt die Eröffnungsrede. Martin Schultz, Präsident des EU-Parlaments war ebenso gekommen wie der französische Staatspräsident Hollande.
Und alle betonten die Bedeutung der Gewerkschaften, des sozialen Dialogs und der sozialen Dimension des europäischen Einigungsprozesses. Dass es für den EGB gleichzeitig alles andere als einfach ist, europäische Politiken im Sinne der europäischen ArbeitnehmerInnen und Gewerkschaften zu beeinflussen, davon zeugt wiederum die Realpolitik in der EU.
Dem EGB fehlt es nicht nur an realer Durchsetzungsmacht, er muss selbst darum kämpfen, überhaupt angehört zu werden. Um den „sozialen Dialog“ – also die Einbindung der Gewerkschaften in die europäische Politikgestaltung – ist es schlecht bestellt. Und nicht nur in der EU, sondern vermehrt auch in den EU-Mitgliedsstaaten.
Gewerkschaften europaweit unter Druck
Das waren dann tatsächlich auch über weite Strecken die dominierenden Themen am EGB-Kongress. Die Situation für die europäischen Gewerkschaften gestaltet sich tatsächlich alles andere als einfach.
Lange Zeit unbestritten geglaubte Gewerkschaftsrechte – wie etwa die „Tarifautonomie“, also die staatliche Nichteinmischung in Tarifvertragsverhandlungen zwischen Gewerkschaften und Unternehmerverbänden – stehen europaweit unter Beschuss, oder wurden sogar bereits ausgehöhlt und selbst abgeschafft.
Insbesondere in Krisenländern wie Griechenland, Spanien und Portugal, in Rumänien, Ungarn aber auch in Italien ist die kollektivvertragliche Abdeckung der ArbeitnehmerInnen drastisch zurückgegangen.
Die betriebliche Ebene wurde gegenüber der Branchen- oder nationalen Ebene gestärkt, „Allgemein-Vverbindlichkeits-Erklärungen“ aufgeweicht, der Abschluss von Flächen-Kkollektivverträgen erschwert bis verunmöglicht.
Die Folgen in praktisch allen Ländern: massive Einkommensverluste, Kürzungen bei Mindestlöhnen und der Verlust von sozial- und arbeitsrechtlichem Schutz. Und die empfindliche Schwächung der Gewerkschaften und ihrer Macht, bis hin zur Kriminalisierung gewerkschaftlicher Aktivitäten wie etwa in Spanien aber auch in Großbritannien. Und wer glaubt, derartige Entwicklungen blieben auf die Krisenländer beschränkt, der irrt.
Um die „Wettbewerbsfähigkeit“ allgemein zu steigern, stehen überall in Europa die Flächenkollektivverträge zur Debatte. Sie sind es, die zu wenig Lohnflexibilität erlauben, um die Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe zu erhöhen, heißt es seitens der Liberalisierungsgläubigen. Noch bleibt es bei der Debatte – mit der weiteren Vertiefung des EU-Binnenmarkts drohen der Debatte allerdings bald konkrete Angriffe und Schritte zu folgen.
Inhaltliche Positionierungen im Zeichen von Krise und Austeritätspolitik
Entsprechend fielen auch das „Arbeitsprogramm“ des EGB für die nächsten Jahre, sowie die Anträge zum EGB-Kongress aus: Sie standen ganz im Zeichen europäischer „Krisenbewältigung“, die über weite Strecken zu einer Verschärfung der sozialen Krise geführt hat.
Der EGB fordert eine Abkehr von der ruinösen Austeritätspolitik, die Stärkung des sozialen Dialogs in Europa, ein Ende der Angriffe auf Tarifautonomie, Gewerkschafts- und ArbeitnehmerInnenrechte, einen Kampf gegen Steuerbetrug, eine europäische Investitionsoffensive um Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, also die Stärkung der sozialen Dimension in Europa.
Und: Es gab eine Dringlichkeitsresolution, in der sich der EGB klar und unmissverständlich auf die Seite der Menschenrechte, der Flüchtlinge, gegen Zäune und Grenzen stellt. Besonders bewegend: Die Reden der schwedischen Bildungsministerin und Aida Hadzialic und des belgischen Gewerkschafters und ehemaligen Sans Papier-Aktivisten Oumar Diakhaby – beide ehemals Flüchtlinge, die einmal mehr betonten, dass aktive Menschenrechtspolitik und der Kampf gegen Rassismus, Rechtsextremismus und Nationalismus gerade auch Aufgabe der Gewerkschaften sei.
Wahlen mit Schönheitsfehlern
Bernadette Ségol war die erste Frau im Generalsekretariat des EGB. Und sie wird auch die bislang letzte gewesen sein. Die Spitze des EGB wird in Zukunft mit dem neu gewählten EGB-Präsidenten Rudi de Leeuw (Belgien) und dem Italiener Luca Visentini (Italien) wieder rein männlich besetzt sein. Stv. GeneralsekretärInnen sind Peter Scherrer von der deutschen IG-Metall – der gerne Generalsekretär geworden wäre – und Veronica Nilsson, eine schwedische Gewerkschafterin.
An diesem Männerüberhang in zentralen Führungspositionen wurde heftige Kritik geübt – keineswegs nur von weiblichen Delegierten. Tatsächlich setzt sich im „Dach“ EGB allerdings nur fort, was in den nationalen Gewerkschaftsverbänden seit Jahrzehnten traurige Geschlechterrealität ist: Solange die nationalen Gewerkschaftsbünde männlich dominiert sind, wird das auch der EGB bleiben.
Ein Problembewusstsein dahingehend gibt es. Ohne einem Mehr an Geschlechterdemokratie in den Gewerkschaftsverbänden wird es mit selber allerdings auch im EGB nicht weit her sein.
Herausforderungen für die nächsten Jahre
Über Mangel an Herausforderungen kann der EGB nicht klagen. Da wären einmal die organisatorischen, vor denen sich der EGB in den nächsten Jahren sieht. Und die sind uns auch aus „unseren“ Gewerkschaften bestens bekannt: Mitgliederzahlen erhöhen, um wieder an Stärke zu gewinnen, Frauen in den Gewerkschaften „sichtbarer“ machen, die stärkere Integration und Repräsentation von MigrantInnen, Prekären und Jungen in die europäische Gewerkschaftsbewegung.
Ebenfalls immer wieder eingefordert: die Verbesserung der Kampagnenfähigkeit und eine engere Kooperation der Gewerkschaftsverbände untereinander.
Die wird es auch brauchen. Denn die wohl größte Herausforderung – der Kampf für soziale Rechte, für ArbeitnehmerInnen, für ein solidarisches, demokratisches und ökologisches Europa wird nicht leichter.
Dass Gewerkschaften bei aller strukturellen Schwäche dennoch immer wieder zu großen Mobilisierungen fähig sind, davon zeugt nicht zuletzt das Beispiel Finnland: Hier brachten die Gewerkschaften in ihrem Kampf gegen arbeitnehmerInnen- und gewerkschaftsfeindliche Reformen über 300.000 Menschen auf die Straße und verzeichnen steigende Mitgliedszahlen. Das gibt Hoffnung. Hoffnung die wir jedenfalls überall in Europa brauchen.
Umfassende Berichte vom EGB-Kongress in Paris auf unserem Blog „Belvederegasse“.
Quelle: Die Alternative