BREXIT II: Warum ein EU-Austritt für Linke keine Perspektive sein kann.

Im ersten Teil der Studie wurden die Ergebnisse der Nachwahl-Analyse des „Lord Ashcroft Polls“-hinsichtlich des Stimmverhaltens entlang Alter, Geschlecht und sozialem Status zusammengefasst. Weiters wurden die Wünsche nach „nationaler Selbstbestimmung“ sowie einem weitgehenden Zuwanderungsstopp als wesentliche Motive der Austritts-BefürworterInnen für ihre Wahlentscheidung beschrieben.

Im zweiten Teil geht es vor allem darum, unter welchen Partei­gängerInnen die „Leave“- und „Remain“-Voters zu finden sind, und für welche Wertehaltungen EU-Gegner­Innen und -BefürworterInnen stehen. Und ob es mögliche Schnittmengen gibt. Und zuletzt: Welche Schlüsse können aus den Untersuchungsergebnissen gezogen werden?

Abstimmung nach Parteizugehörigkeit

Dass das „Leave“ ein rechtes Votum war – auch wenn es seitens der „Linken“ mehr als genug berechtigte Kritik an der EU, ihren Institutionen, ihrer ideologischen Ausrichtung und ihrer ruinösen Austeritätspolitik gibt – zeigt neben den zentralen Beweggründen für die Wahl nicht zuletzt das Abstimmungsverhalten nach Parteien­präferenz: AnhängerInnen linker und liberaler Parteien stimmten klar mehrheitlich für ein „Remain“, WählerInnen rechter Parteien nicht weniger eindeutig für ein „Leave“. Die Spaltung verlief weniger „innerhalb“ der politischer Lager, als ­entlang der ideologischen Grenzen.

  • WählerInnen der sozialdemokratischen Labour Party sowie der linken Schottischen Nationalpartei (SNP) stimmten zu fast zwei Drittel – zu 63 beziehungsweise 64 Prozent – für den Verbleib Großbritanniens in der EU. Besonders die SNP – Mitglied der grünen Fraktion im Europaparlament – gilt als besonders EU-freund­liche und pro-europäisch ausgerichtete Partei, die bereits ein zweites Referendum über den Austritt Schottlands aus dem Vereinigten Königreich angekündigt hat, um in der EU verbleiben zu können.
  • WählerInnen der britischen Grünen haben sich zu 75 Prozent für einen EU-Verbleib ausgesprochen – das höchste pro-europäische Voting nach Parteianhänger­Innenschaft.
  • AnhängerInnen der ebenfalls traditionell EU-freund­lichen Liberaldemokraten stimmten mit 70 Prozent für die Mitgliedschaft in der EU.
  • Als unmissverständlich pro-europäisch positionierten sich auch die walisische Regionalpartei Plaid Cymru (Mitglied der Grünen-Fraktion im EU-Parlament) sowie die nordirische Sinn Fein (Mitglied der Linken-EU-Fraktion).
  • Eine Mehrheit von 58 Prozent gegen die EU-Mitgliedschaft gab es in den Reihen konservativer ParteigängerInnen. Noch deutlicher fiel das Stimmverhalten bei der rechtspopulistischen, antieuropäischen UKIP-United Kingdom Independence Party aus, die sich seit jeher den Austritt zum primären politischen Ziel gesetzt hat und insbesondere auch das Migrations- und Flüchtlingsthema für ihre Anti-EU-Propaganda missbrauchte: 96 Prozent der UKIP-Anhänger­Innen stimmten für den Austritt.
  • Insgesamt kamen knapp zwei Drittel der „Remain“-Stimmen von AnhängerInnen links-(liberaler) Parteien (39 Prozent Labour, 12 Prozent Liberaldemokraten, 7 Prozent Grüne, 6 Prozent SNP, 1 Prozent Plaid Cymru), umgekehrt zwei Drittel der „Leave“-Stimmen von ParteigängerInnen der politischen Rechten (40 Prozent Konservative, 25 Prozent UKIP).

Linke ParteigängerInnen sind unter den Austritts­befürworterInnen also deutlich unterrepräsentiert.

Wertehaltungen – Progressive für EU, Konservative dagegen

Hinsichtlich der Wertehaltungen (gefragt wurde, ob bestimmte Wertehaltungen, Einstellungen, Errungenschaften beziehungsweise Entwicklungen als Gefahr oder Gewinne für die Gesellschaft empfunden werden), ergibt sich ebenfalls ein ziemlich eindeutiges Bild: Die EU-Gegner­Innen haben deutlich konservativere – um nicht zu sagen geradezu reaktionäre – Einstellungen als die EU-Befürworter­Innen. Was allerdings interessant ist: Hinsichtlich der Bewertung, ob der „Kapitalismus“ nun was Gutes oder Schlechtes sei, sind EU-GegnerInnen wie BefürworterInnen ziemlich einheitlicher Meinung.

  • Die Austritts-BefürworterInnen sehen Multikulturalität (81 Prozent), Gesellschaftsliberalismus (80 Prozent), Feminismus (74 Prozent), die Umweltbewegung (78 Prozent) und Migration (80 Prozent) als „schlecht“ beziehungsweise für die Gesellschaft „schädlich“ an. Die ausgewiesen hohen ablehnenden Werte sprechen für eine dominierende stark rechts-konservative bis bereits ins rechts-extreme gehende Wertehaltung bei den EU-GegnerInnen. Es ist auch kein Zufall, dass anti-europäische Einstellungen insbesondere in der extremen politischen Rechten weit verbreitet sind und diese ganz offensichtlich problemlos an ein „reaktionäres“ Welt- und Menschenbild anknüpfen können. Auch hinsichtlich technologischer Entwicklungen zeigt sich das „Leave“-Lager ausgesprochen skeptisch: 71 Prozent empfinden das Internet als Risiko für die Gesellschaft.
  • Lediglich für rund ein Viertel des „Leave“-Lagers stellen „linke“ beziehungsweise „sozial-liberale“ Wert­haltungen keine Gefahr sondern einen Gewinn für die Gesellschaft dar.
  • Etwas weniger ausgeprägt aber immer noch recht eindeutig – war das Pro-EU-Lager (ähnlich wie in Österreich das Pro-Van der Bellen-Lager) doch ideologisch breiter aufgestellt – stellen sich die Einstellungen der „Remain“-Voters dar. Die Wertehaltungen der EU-BefürworterInnen sind deutlich „progressiver“ beziehungsweise „linker“ ausgeprägt als jene der EU-GegnerInnen.
  • EU-BefürworterInnen stehen Multikulturalismus (71 Prozent), Gesellschaftsliberalismus (68 Prozent), Feminismus (60 Prozent), der Umweltbewegung (62 Prozent) und Migration (79 Prozent) grundsätzlich positiv gegenüber und sehen diese als Gewinn für die Gesellschaft. Die relativ hohe Ablehnung des Feminismus (40 Prozent), der Umweltbewegung (38 Prozent) aber auch gesellschaftsliberaler Positionen (32 Prozent) ist vermutlich auf den relativ höheren Anteil konservativer beziehungsweise rechtsliberaler Pro-Europa-VoterInnen im EU-Austrittss-Lager zurück­zuführen. Umgekehrt ist im EU-Austrittslager der Anteil ausgewiesener „Links-Liberaler“ ungleich geringer, weswegen progressive Wertehaltungen unter den Austritts-BefürworterInnen eine deutlich untergeordnetere Rolle spielen. Wie auch immer, der ideologische Unterschied zwischen „Leave“- und „Remain“-Voters ist signifikant und auffallend und zeugt auch in Großbritannien von einer zunehmenden Spaltung der Gesellschaft.
  • Gibt es bei der Einschätzung der Globalisierung auf die Gesellschaft (69 Prozent der EU-GegnerInnen finden die Globalisierung schlecht, aber immerhin auch 38 Prozent der EU-BefürworterInnen) noch deutliche Unterschiede, sind „Leave-“ und „Remain“-Wähler­Innen hinsichtlich ihrer Einschätzung des Kapitalismus praktisch ident: Ziemlich exakt die Hälfte der jeweiligen Gruppe steht dem Kapitalismus positiv beziehungsweise negativ gegenüber.

Was beide Gruppen interessanterweise ebenfalls eint: Eine grund­sätzliche Skepsis hinsichtlich einer positiven wirtschaftlichen Entwicklung und eigener Perspektiven – sowie jener ihrer Kinder.

  • Sowohl BefürworterInnen der EU (20 Prozent) als auch GegnerInnen (42 Prozent) erwarten sich mehrheitlich keine Verbesserung ihrer eigenen Situation, sondern fürchten vielmehr eine Verschlechterung (im Unterschied dazu erwarten sich Van der Bellen-WählerInnen im Gegensatz zu den Hofer-WählerInnen mehrheitlich eine Verbesserung ihrer Lebenssituation).
  • Wenig Hoffnung haben die Lager auch auf eine Verbesserung der Chancen ihrer Kinder. Hier ist das Pro-EU-Lager nur geringfügig optimistisch (4 Prozent) während, der Saldo bei den EU-GegnerInnen mit einem minus von 22 Prozent deutlich in Richtung „wenig Hoffnung“ schlägt.
  • Auch hält sich die Zustimmung zur Behauptung, wonach unabhängig vom sozialen Hintergrund jede/r die Chance hat, in Großbritannien erfolgreich zu sein, in Grenzen. Nur 16 Prozent der Austritts-Befürworter­Innen und selbst lediglich 22 Prozent der Austritts-GegnerInnen stimmen dieser Aussage mehrheitlich zu.
  • Nur, dass es vor 30 Jahren deutlich besser war, will eine Mehrheit von 46 Prozent der BefürworterInnen nicht so recht glauben, während 16 Prozent der ­GegnerInnen dieser Aussage zustimmen.

Schlussfolgerungen

  • Das „Leave“-Votum in Großbritannien war definitiv ein rechtes Votum. Die Abstimmung über den BREXIT war die Forderung rechter Parteien und wurde von diesen auch vorangetrieben. Quer über Europa gilt es inzwischen rechtsextremen und ­rechtspopulistischen Parteien als Vorbild.
  • Die extreme Rechte in Frankreich und den Nieder­landen hat bereits entsprechende Referenden angekündigt, in Österreich will der ehemalige FPÖ-Präsidentschaftskandidat Hofer innerhalb des nächsten Jahres darüber entscheiden, ob auch die Österreicher­Innen vor die Alternative „Gehen“ oder „Bleiben“ gestellt werden sollen.
  • Für die Linke kann ein Austritt aus der EU keine realistische beziehungsweise erstrebenswerte Perspektive darstellen. Nicht zuletzt, weil man unweigerlich in rechtsextreme, nationalistische Fahrwasser gerät. Und – weil das „linke“ beziehungsweise „linksliberale“ Lager unmissverständlich europafreundlich orientiert ist. Bei aller Skepsis und Kritik, die gegenüber europäischer Politik und Krisenbewältigung herrscht, würde eine Kampagne für einen EU-Austritt innerhalb der Linken keine Mehrheiten finden. Nicht einmal annähernd. Bleibt also, die EU „von innen“ zu verändern, einen wirtschafts- und sozialpolitischen Kurswechsel in Europa herbeizuführen.
  • Innerhalb des linken Lagers ist allerdings umstritten, ob das überhaupt möglich ist. Die institutionelle und vertragliche, ja selbst völkerrechtliche (zum Beispiel Fiskalpakt) Festschreibung eines strikten Austeritätskurses, sowie die grundsätzliche Fehl­konstruktion der EU lässt den Umbau der EU in Richtung Sozialunion beinahe unmöglich erscheinen. Der angekündigte Ausbau der „sozialen Säule“ erscheint anbetrachts der real erlebten Zertrümmerung sozialstaatlicher Strukturen in den Krisenstaaten durch die Troika geradezu als Hohn. Und selbst abseits derartiger Brachial­methoden zielen die Empfehlungen der EU-Kommission zur Hebung der Wettbewerbsfähigkeit – insbesondere der einfluss­reichen Generaldirektion Wirtschaft und Finanzen – auf Lohn­senkungen, Abbau von Arbeits-, Gewerkschafts- und Sozialrechten sowie sozialstaatlicher Sicherungsmodelle insgesamt ab. In vielen europäischen Ländern sind die Realeinkommen gesunken, ist die Armut gestiegen, die Arbeitslosigkeit nach wie vor auf einem anhaltend hohen Niveau. Das europäische Versprechen, den Wohlstand aller zu heben, ist brüchig geworden und gilt für immer Weniger. Ganze Regionen sind infolge der Krise und der europäischen Krisenpolitik von der Verelendung bedroht. Wie sehr die EU, ihre Institutionen und ihre Eliten in der Krise stecken, zeigt die immer weiter um sich greifende EU-Skepsis, die wachsende Perspektivenlosigkeit, das Erstarken anti-europäischer, rechtspopulistischer und rechtsextremer Parteien.

Einmal mehr: It’s the economy

Einen strikten Austeritätskurs mit massiven Einkommensverlusten und Einschnitten in die Sozialsysteme hat es auch in Großbritannien gegeben. Die Beschäftigungs­zuwächse sind vor allem auf die wachsende Zahl Selbständiger zurückzuführen. „Prekär“ arbeitender und lebender Selbständiger. Die Einkommen der Selbständigen sind nämlich seit Krisenausbruch 2008 um 22 Prozent gesunken. Im gleichen Zeitraum ist die Zahl der Armen um 1,1 Millionen gestiegen. 15 Millionen Personen sind in Großbritannien von Armut bedroht. Wer von der Krise besonders hart betroffen war und ist– die ArbeiterInnen, die Armen, die Prekarisierten – stimmt gegen die EU und ihre Eliten – egal auf welcher Ebene. Einmal mehr gilt: It’s the economy, stupid! (siehe Beitrag „Europa an der Kippe“ auf dem A -Blog)

Die reale sozial- und wirtschaftspolitische Verfasstheit der EU macht es Linken – insbesondere auch gewerkschaftlich orientierten Linken – unmöglich, sich bedingungslos hinter ein „JA“ zu dieser EU zu stellen. Wenn ein Austritt allerdings keine Perspektive ist, bleibt nur der Kampf für eine soziale, demokratische und ökologische Union und für einen grundlegenden wirtschafts- und ­sozialpolitischen Kurswechsel in Europa. Das wird auch die große Herausforderung für Gewerk­schafterInnen und Linke im Fall drohender, kommender Referenden sein: Die Ablehnung eines Austritts unter nationalen und fremden­feindlichen Vorzeichen muss mit Kritik an der vorherrschenden europäischen Austeritätspolitik und dem Kampf um ein „anderes“ Europa – eine Sozial- und Umweltunion – verbunden werden. Um ein Europa, das tatsächlich geeignet ist, Chancen und Perspektiven zu bieten und Hoffnung statt Frustration zu erzeugen. Gelingt dieser Kurswechsel in Europa nicht, wird der Austritt Groß­britanniens vermutlich nicht der Letzte gewesen sein und der Vormarsch von Nationalismus, Chauvinismus und Menschenfeindlichkeit nur schwer aufzuhalten sein. Ob Europa dahingehend lernfähig ist?

Quelle: Die Alternative

Durch die weitere Nutzung der Seite stimmst du der Verwendung von Cookies zu. Weitere Informationen

Die Cookie-Einstellungen auf dieser Website sind auf "Cookies zulassen" eingestellt, um das beste Surferlebnis zu ermöglichen. Wenn du diese Website ohne Änderung der Cookie-Einstellungen verwendest oder auf "Akzeptieren" klickst, erklärst du sich damit einverstanden.

Schließen