Ist die ICH-Gesellschaft überlebensfähig – und wenn, wie lange? Die Zukunft des WIR, der Gesellschaft und der Gewerkschaften.
Wenn uns Corona, neben all dem Leid und Tod, dem wirtschaftlichen Supergau und dem Ende der Spaßgesellschaft etwas gezeigt hat, dann, dass die Gesellschaft den Zusammenhalt und den Glauben an das WIR aufgegeben hat. Zumindest werden wir nun bald seit zwei Jahren medial zugespamt mit diesen Botschaften. Neid und Missgunst sind im gesellschaftlichen Alltag stärker denn je spürbar. Besonders im Arbeitsleben haben Gewerkschaften mit diesen Herausforderungen zu kämpfen. Denn wie soll nachhaltige gewerkschaftliche Vertretungspolitik möglich sein, wenn die Mitglieder schwinden? Wann ist der Zeitpunkt, dass die Sozialpartnerschaft kippt und die Gewerkschaft nur noch für das Mitglied verhandeln kann? Wie ist es dann um die Nichtmitglieder bestellt?
Bereits 2020 stolperte ich bei Recherchen über einen Beitrag von Prof. Dr. Heribert Prantl (Publizist und ständiger Kolumnist der Süddeutschen Zeitung), welcher schreibt:
Es gibt Rote Listen für gefährdete Tiere, Pflanzen und Pilze. Rote Listen für Organisationen, Institutionen und Parteien gibt es noch nicht. Gäbe es sie – die Gewerkschaften wären dort aufgeführt. Geht eine Ära zu Ende? Geht die Ära zu Ende, in der das Wort Solidarität identitätsstiftende Bedeutung hatte?
Der miterlebte Mitgliederschwund hängt nicht nur mit dem natürlichen Ende des Arbeitslebens, oder des generellen Ablebens zusammen, nein, vielmehr mit sich wiederholenden Austrittswellen bzw. einem „erst gar nicht beitreten-Aspekt“.
Für viele junge Menschen im Arbeitsleben stellt sich die Gewerkschaft als „Old School“ dar.
Ein antiquierter Haufen von Funktionär*innen, welche einem Traum einer besseren Arbeitswelt nachhängen, oder welche, die versucht haben, es sich persönlich zu verbessern. Aber schon gar nicht möchte mensch für einen Verein wie die Gewerkschaft auch noch Beiträge bezahlen. Die Vorstellung, wie bei der younion 14x im Jahr ein Prozent vom Bruttolohn zu bezahlen, schreckt ab. Besonders dann, wenn überhaupt nicht klar ist, wofür die Gewerkschaft da ist und was sie geschichtlich betrachtet mit unserem Arbeitsleben zu tun hat. Unterm Strich wird die Gewerkschaft, auch die younion, gerne zum Sündenbock gemacht und moralisch negativ etikettiert.
Der Ausblick in die Zukunft der Arbeitswelt sagt, dass wir uns den Gewerkschaftsbeitrag unbedingt leisten sollten, ja sogar müssen!
Die anstehenden Veränderungen und die damit verbundene Hilflosigkeit des Einzelnen/der Einzelnen draußen sind keine guten Wegbegleiter. In den letzten zehn Jahren wurden auch die Stimmen jener Mächtigen laut, welche sich von den Gewerkschaften zu Recht gefährdet fühlten und fühlen. Wer will schon ein starkes Gegenüber, wenn es um Macht, Einfluss und Geld geht?
Die Politik, welche immer stärker über die Köpfe der Bevölkerung ihr eigenes Ding macht, eine Wirtschaft, die gierig auf Gewinne schaut, eine zunehmend digitalisierte Arbeitswelt und der öffentliche Dienst und die Daseinsvorsorge, welche personell immer mehr verschlankt und ausgehungert wird – all diese Gegenspieler*innen haben sich eine mitgliederstarke Gewerkschaft verdient.
Gewerkschaft: Lassen wir uns unsere Stimme nicht nehmen und treten wir ein für:
Gesicherte, unbefristete Arbeitsverhältnisse müssen wieder selbstverständliche Normalität werden. Die Arbeitszeiten müssen verkürzt werden, damit die Arbeit neu verteilt wird. Vier-Tage-Woche, 30-Stunden-Woche als künftiger Standard. Kürzere Arbeitszeiten sollen den Lebensumständen Rechnung tragen: also Familienzeit, Bildungszeit, Erziehungszeit, Pflegezeit, Altersteilzeit. Es braucht neue Offensiven zur Humanisierung der Arbeit, es braucht die Abwehr des zeitlichen und physischen Drucks. Verbesserte Rahmenbedingungen für Pflege, Bildung und Soziales – und damit die Zukunft unserer Gesellschaft eine Absicherung in diesen Bereichen erfährt. Die Mitgestaltung des digitalisierten Wandel und der Green Jobs in der Arbeitswelt. Die Leistbarkeit von „grün (ökologisch korrekt), gesund und regional“ im Lebensalltag, im Verkehr und in der Arbeitswelt.
Solidarität ist kein nachwachsender Rohstoff
Sie bleibt nicht einfach da, wenn sich die Arbeitsbedingungen völlig verändern, wenn es die Gleichartigkeit der Lebens- und Arbeitsbedingungen und die gemeinsamen Erfahrungen am gemeinsamen Arbeitsort immer weniger gibt. Deshalb nehmen die Mitgliederzahlen unserer Gewerkschaften dramatisch ab. Es entwickelt sich die konkrete Solidarität wieder zurück. Das ICH wird über das WIR gestellt, in der Annahme, dass GEMEINSAM eigentlich GEMEIN und EINSAM ist.
Die alte Arbeitskampfrhetorik einfach 4.0-mäßig aufzumotzen alleine, wird die anstehenden Probleme nicht lösen. Es bedarf den ursprünglichen Gedanken, dass die Gewerkschaft und ihre Vertreter*innen wieder bei den arbeitenden Menschen sind. Ihnen zuhören und ihre Ängste, Nöte und Anliegen kennen. Mit ihnen mutig in einen neuen Abschnitt der Arbeitswelt gehen. Als Unabhängige Gewerkschafter*innen der KIV in der younion geben wir alles dafür!